Rahmenbedingungen

Gesetzliche Neuregelung notwendig

Karl Materla, Manfred Walhorn und Prof. Dr. Thomas Klatetzki zeigen auf, dass die Organisationsdefizite in der Kooperation im Kinderschutz mit anderen Professionen primär ein strukturelles Problem darstellen. Herr Prof. Dr. Klatetzki beschreibt die aktuell existierenden Netzwerke als lose gekoppelte Kooperationssysteme, die ungeeignet sind, derart mehrdeutige und komplexe Probleme zu bearbeiten, wie das einer Kindeswohlgefährdungseinschätzung. Alle drei Experten halten eine gesetzliche Verpflichtung der am Kinderschutz Beteiligten zur Kooperation in sogenannten latenten, unsicheren bzw. hochkomplexen Fällen (ca. jeder 5. KWG-Fall) als basal notwendig. Während im Bereich des präventiven Kinderschutzes durch das landesweit flächendeckende Kooperationsmodell „Frühe Hilfen“ sowie der Ergänzung durch das Landesförderprogramm „Kinderstark – NRW schafft Chancen“ Bausteine rechtskreisübergreifender sozialer Prävention erfolgreich geschaffen werden, gibt es etwas Vergleichbares für den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nicht.

Herr Walhorn schlägt daher die Einführung eines Präventions- und Kinderschutzgesetzes des Landes NRW vor. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe könnte dies in Form eines Landesausführungsgesetzes zum SGB VIII realisiert werden. Neben der Klärung materieller Grundlagen könnten so wichtige Regelungen zur Verfahrensqualität, Rahmenvorgaben zur Personalbemessung, notwendige Kompetenzen und Fortbildungsangebote, Präzisierungen im Profil der insoweit erfahrenen Fachkräfte sowie insbesondere die verpflichtende Bildung kommunaler, rechtskreisübergreifender Netzwerke zur Wahrnehmung des Schutzauftrags in einen verbindlichen Rahmen gestellt werden. Die Fachgesetze anderer Bereiche (Schule, Polizei, Justiz, Gesundheitswesen) müssten entsprechend um verbindliche und präzisierte Vorgaben, beispielsweise zur Fortbildung von Familienrichter*innen, verbindlichen Schutzkonzepten und der Aufnahme von Kinderschutz in die Lehrpläne von Ausbildungsgängen erweitert werden. Kooperation im Kinderschutz könne nur gelingen, wenn die Qualität der einzelnen Systeme gut sei.

Herr Materla verdeutlicht, dass der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) vom 5.10.2020 keine ausreichenden Neuerungen zur Verbindlichkeit der interdisziplinären Kooperation im fallbezogenen Kinderschutz enthält. Darüber hinaus könne ein Bundesgesetz die NRW-Jugendamtssonderstrukturen, nämlich zahlreiche kreisangehörige Klein- und Kleinstjugendämter und gleichzeitig diametral verlaufende Organisationsstrukturen der benötigten Kooperationspartner*innen (z.B. Polizei und Familiengerichte), nicht zugunsten der Optimierung von Kooperation regeln.

Britta Discher, Dr. Tanja Brüning und Prof. Dr. Sibylle Banaschak belegen mit Beispielen aus ihrer Praxis, wie problematisch für den Gesundheitsbereich die kleinteiligen Jugendamtsstrukturen und die variierenden Verfahrensweisen in den jeweiligen Jugendämtern für die Zusammenarbeit im intervenierenden Kinderschutz sind.

 

Organisationsversagen -> Fehlerkultur

Herr Prof. Dr. Klatetzki verweist darauf, dass das öffentlich betriebene „blame game“ (Suche nach Schuldigen und öffentliches Anprangern), welchem Mitarbeiter*innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) zunehmend ausgesetzt wären, verkenne, dass es nicht primär um individuelles Versagen in Kinderschutzfällen ginge, sondern sich hierin das Versagen der ganzen Organisation der Kinder- und Jugendhilfe offenbare. Weiter erfasse die Frage nach Schuldigen in Kinderschutzfällen nicht angemessen die moralische Dimension solcher Fälle. So werde vielmehr das Dilemma zwischen Hilfe und Kontrolle, in dem ASD-Mitarbeiter*innen stets agieren, lediglich individualisiert und nicht aufgelöst.

Von der Sorge vor einer Strafverfolgung aufgrund von Unterlassen bzw. Fehleinschätzungen beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung von ASD-Mitarbeiter*innen berichtet Herr Materla. Er macht deutlich, dass die Entscheidung für die Letztverantwortlichkeit des Jugendamts in dem Wunsch getroffen wurde, strafrechtlich einen individuellen Schuldigen zu finden. Frau Discher und Frau Auchter-Mainz deklarieren diese Sorge als realistisch unbegründet, da es defacto nur zu wenigen Strafverfolgungsfällen von ASD-Mitarbeiter*innen kommen würde. Herr Walhorn ergänzt, dass die Mitarbeiter*innen des ASD auf einer „Rasierklinge“ stünden, da sie nicht nur unter Druck geraten, wenn Kinder nicht aus der Familie genommen, sondern auch, wenn Kinder zu früh aus der Familie genommen werden.

Frau Dr. Brüning und Frau Prof. Dr. Banaschak bringen ein, dass daher der Aufbau und das Leben einer Fehlerkultur dringend geboten sei. Allerdings befinde sich auch die Medizin erst im Prozess des Aufbaus einer Kultur, in der „Fehler“ an- und besprechbar werden. Grundsätzlich müsse die Arbeit des ASD aufgewertet werden, gerade auch im Hinblick auf die Bezahlung, um entsprechend ausgebildetes Personal längerfristig binden zu können, so Frau Dr. Brüning.

 

Finanzierung der Teilnahme an Netzwerken von Akteur*innen aus dem Gesundheitsbereich

Um voneinander zu lernen und sich aufeinander abzustimmen, ist es weiter basal wichtig, dass die Teilnahme an Netzwerktreffen für Akteur*innen aus dem Gesundheitsbereich durch entsprechende Regelungen im SGB V finanziell abrechnungsfähig wird. Darüber hinaus betont Frau Prof. Dr. Banaschak, dass die Terminierung von Netzwerktreffen außerhalb der üblichen Praxiszeiten entscheidend für die Teilnahme von Akteur*innen aus dem Gesundheitsbereich sei.

 

Unbürokratischer Umgang mit Daten, wenn dem Schutzauftrag dienlich

Immer wieder werden in Studien als Hemmnis für interdisziplinäre Kooperation datenschutzrechtliche Gründe benannt. Christoph Voßwinkel betont, dass eine mögliche Weitergabe von wichtigen Informationen/Daten durch die Polizei an andere öffentliche Stellen wie etwa das Jugendamt durch das Polizeigesetz gedeckt sei. Er plädiert daher für einen unbürokratischen Umgang mit der Weitergabe von wichtigen Informationen/Daten, wenn es dem Schutzauftrag dienlich ist. Insbesondere, wenn Täter*innen immer wieder umziehen, sei es notwendig, dass die Polizei das wechselnd zuständige Jugendamt darüber informiert, dass es bereits zuvor Vorfälle, z. B. von häuslicher Gewalt, gab. Zurzeit ist diese wesentliche Datenweitergabe noch von dem Engagement und dem Weitblick des/der einzelnen Polizeibeamt*in abhängig.

 

Fortbildungsbedarf: Kindgerechte Befragungen

Andreas Steffens und Herr Voßwinkel weisen darauf hin, dass die formale Regelung zur Wahrheitsverpflichtung bei der polizeilichen Vernehmung von Zeug*innen, also auch von Kindern, eine kindgerechte Gesprächsführung häufig beeinträchtigt. Vernommene trauen sich dann häufig nicht mehr, Ereignisse zu schildern, weil sie sie nicht in eine nachvollziehbare, logische Reihenfolge bringen können.

Frau Dr. Brüning betont, wie wichtig es für alle am Kinderschutz beteiligten Professionen sei, in einer kindgerechten Gesprächsführung geschult zu sein, insbesondere Polizist*innen sollten entsprechend geschult werden. Herr Steffens beschreibt, dass bei der Polizei vermehrt Spezialisten ausgebildet werden, die dieses lernen und können würden. Generell sieht aber auch er weiteren Fortbildungsbedarf.

 

Interdisziplinäre Fortbildungen fördern

Das Gelingen kooperativer Strukturen im Kinderschutz ist laut Fr. Prof. Dr. Banaschak und Fr. Dr. Brüning auch davon abhängig, dass Fortbildungen interdisziplinär ausgerichtet und durch die verschiedenen betroffenen Landesministerien gefördert werden.