Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung

Kindeswohlgefährdung kann verursacht werden durch ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen der Personensorgeberechtigten oder aber durch das Verhalten Dritter. Sie kann geschehen durch einen Sorgerechtsmissbrauch, durch bewusstes, gezieltes Handeln oder unverschuldetes Versagen.

Ein Sorgerechtsmissbrauch meint die Ausnutzung der elterlichen Sorge zum Schaden des Kindes. Unverschuldetes Versagen meint Beeinträchtigungen des Kindeswohls, ohne dass den Personensorgeberechtigten die Schädlichkeit des Handelns oder Unterlassens bewusst ist.

Als Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung gelten im Detail:

Vernachlässigung wird definiert als andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglicher Handlungen der Eltern oder anderer autorisierter Betreuungspersonen, die für die Versorgung des Kindes auf körperlicher oder emotionaler Ebene nötig wären.

Diese Unterlassungen können verschiedene Grundbedürfnisse von Kindern betreffen.

Körperliche Vernachlässigung: unzureichende Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, witterungsangemessener Kleidung oder mangelhafte Hygiene, mangelhafte medizinische Versorgung, unzureichende Wohnverhältnisse u.ä.

Erzieherische und kognitive Vernachlässigung: fehlende Kommunikation, erzieherische Einflussnahme, fehlende Anregung zu Spiel und Leistung

Emotionale Vernachlässigung: Mangel an Wärme, Geborgenheit und Wertschätzung u. ä.

Unzureichende Aufsicht: Alleinlassen von Kindern innerhalb und außerhalb des Wohnraums, ausbleibende Reaktion auf unangekündigte Abwesenheiten des Kindes.

Vernachlässigung ist häufig schwer zu fassen. Einer der Gründe dafür ist eine Vielfalt an Lebensstilen. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, was Kinder brauchen und was nicht. „Wie schmutzig dürfen Kinder sein, bevor man von Vernachlässigung spricht?“ Das beurteilen Menschen ebenso unterschiedlich wie: „Wieviel Freiheit  brauchen Kinder, bevor man von Vernachlässigung spricht?“ Bei solchen mögen die Antworten je nach kulturellem Hintergrund bzw. je nach bevorzugter Lebensphilosophie sehr unterschiedlich lauten, obwohl den Eltern das Wohl ihrer Kinder gleichermaßen am Herzen liegt.

Als Erziehungsgewalt lassen sich leichte Formen der physischen und psychischen Gewalt an einem Kind bezeichnen. Sie sind erzieherisch motiviert und haben wohl einen kurzfristigen körperlichen oder seelischen Schmerz, nicht aber die Schädigung oder Verletzung des betroffenen Mädchens oder Jungen zum Ziel. Trotz des Rechts von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung erfahren diese leichten Formen immer noch in Teilen der Bevölkerung eine weitgehende Toleranz.

Kindesmisshandlung meint demgegenüber physische und psychische Gewalt, bei der mit Absicht Verletzungen und Schädigungen herbeigeführt oder aber diese Folgen mindestens bewusst in Kauf genommen werden. Diese schweren Formen werden in weiten Teilen der Bevölkerung entsprechend nicht mehr toleriert.

Gewalt und Misshandlung kann durch die Personensorgeberechtigten und durch Personen geschehen, die zeitweilig mit der Betreuung, Erziehung oder Beaufsichtigung von Kindern betraut sind. In Frage kommen letztendlich aber auch Fremde bzw. den Kindern kaum bekannte Kinder, Jugendliche oder Erwachsene.

 

Körperliche Erziehungsgewalt und Misshandlung

Zu körperlicher Erziehungsgewalt zählen Körperstrafen im Sinne einer nicht zufälligen Zufügung kurzzeitiger körperlicher Schmerzen wie z. B. leichte Ohrfeigen oder hartes Anpacken.

Als körperliche Misshandlung gelten demgegenüber z. B. Tritte, Stöße, Stiche, das Schlagen mit Gegenständen, Vergiftungen, Einklemmen oder das Schütteln insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern .

 

Psychische Gewalt 

Zu den psychischen Erscheinungsformen werden Verhaltensmuster und Vorfälle gezählt, die Kindern das Gefühl vermitteln, sie seien wertlos, ungewollt, nicht liebenswert. Von einer psychischen Misshandlung ist auszugehen, wenn eine oder mehrere Unterformen kennzeichnend für die Eltern-Kind-Beziehung sind, d. h. wiederholt oder fortlaufend auftreten:

  • das Ablehnen des Kindes im Sinne der Herabsetzung der kindlichen Qualitäten, Fähigkeiten und Wünsche, die Stigmatisierung als Sündenbock

  • das Isolieren im Sinne der Unterbindung sozialer Kontakte, die für das Gefühl der Zugehörigkeit des Kindes und die Entwicklung sozialer Fertigkeiten relevant sind

  • das Terrorisieren im Sinne der Androhung, das Kind zu verlassen oder der Drohung mit schweren körperlichen, sozialen oder übernatürlichen Schädigungen

  • das Ignorieren im Sinne des Entzugs elterlicher Aufmerksamkeit oder Ansprechbarkeit und Zuwendung

  • das Korrumpieren im Sinne einer Veranlassung des Kindes zu selbstzerstörerischem oder strafbarem Verhalten bzw. das Zulassen eines solchen Verhaltens bei einem Kind

  • das Adultifizieren im Sinne des Bemühens, das Kind in die Rolle des Ersatzes für eine erwachsene Person zu drängen bzw. die dauernde Überforderung eines Kindes durch Missachtung der altersentsprechenden Möglichkeiten und Grenzen

Als sexualisierte Gewalt gilt nach einer Definition von Günther Deegener (2005) „jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend wehren oder verweigern zu können. Die Missbraucher/-innen nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition sowie die Liebe und Abhängigkeit der Kinder aus, um ihre eigenen (sexuellen, emotionalen und sozialen) Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen und diese zur Kooperation und Geheimhaltung zu veranlassen“.

Bekanntermaßen sind die Täter und Täterinnen bei sexualisierter Gewalt eher selten den Kindern fremde Personen. Neuen Erkenntnissen zufolge sind die Täter*innen zu 96 Prozent den Kindern aus ihrem sozialen Nahbereich bekannt und vertraut. D. h., dies können Familienangehörige, Freunde und bekannte Personen aus dem privaten sozialen Umfeld sein, aber auch soziale, pädagogische und medizinische Fachkräfte, die mit Heranwachsenden in unterschiedlichen Zusammenhängen arbeiten.

Auch bei sexualisierter Gewalt lassen sich physische und psychische Formen unterscheiden.

Physische sexualisierte Gewalt: Hierunter fallen körperliche Handlungen mit und ohne Körperkontakt, die während der persönlichen Begegnung zwischen dem Kind und dem Täter oder der Täterin stattfinden. Dazu gehören das (erotisch motivierte) Küssen, das Manipulieren der kindlichen Geschlechtsorgane und oraler, vaginaler, analer Sexualverkehr.

Ebenso zählen dazu die Veranlassung des Kindes zur Manipulation der eigenen Geschlechtsorgane bzw. die Veranlassung des Kindes, bei der Selbstbefriedigung einer anderen Person anwesend zu sein oder eine dritte Person sexuell zu berühren.

Psychische sexualisierte Gewalt: Hierzu zählen anzügliche und beleidigende Bemerkungen und Witze über den Körper oder die Sexualität eines Kindes, altersunangemessene Gespräche über Sexualität (z. B. detaillierte Schilderungen erwachsener sexueller Erfahrungen, die das Kind überfordern) und das Zugänglichmachen von Erotika und Pornografie.

Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder gibt es darüber hinaus noch einige Sonderformen, die z. T. auch erst (bzw. erst in diesem Ausmaß) im Zuge der Technisierung möglich wurden.

Missbrauchsdarstellungen: Hier wird die an Kindern verübte sexualisierte Gewalt von den Tätern und Täterinnen visuell und/oder akustisch festgehalten. Je nach Interessen der Täter und Täterinnen verbleiben die angefertigten Medien in ihrem Besitz zum Zweck der eigenen sexuellen Erregung, und/oder sie werden zur kommerziellen Bereicherung an andere Interessierte verkauft. Unter gleichgesinnten Täterinnen und Tätern ist auch der Tauschhandel nicht unüblich.

Kinderprostitution: Bei der Ausbeutung von Kindern als Prostituierte nutzen die Täter und Täterinnen die finanzielle Not der Mädchen und Jungen und/oder Bezugspersonen aus, zu denen die Kinder in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die Täterinnen und Täter benutzen die Kinder zur eigenen finanziellen Bereicherung.

Sexualisierte Gewalt im Internet: Kinder, die sich im Internet bewegen, werden häufig ungewollt mit Pornoseiten konfrontiert. Möglich ist ebenfalls, dass sie über das Handy entsprechende Darstellungen zugesandt bekommen. Andere geraten über Chatrooms in Kontakt mit Personen, die sie verbal attackieren, um die eigenen sexuellen Fantasien zu bereichern. Wieder andere Mädchen oder Jungen werden angeschrieben mit dem Ziel, reale Treffen zu arrangieren, um dabei dann sexualisierte Gewalt auszuüben.

Cybergrooming: Mit Grooming (englisch: anbahnen, vorbereiten) werden in der Fachsprache unterschiedliche Handlungen bezeichnet, die einen sexuellen Missbrauch vorbereiten. Speziell geht es hierbei um das strategisch-manipulative Vorgehen von Täter*innen gegenüber Kindern und Jugendlichen. Beim Cybergrooming nutzen Täter*innen soziale Netzwerke wie beispielsweise Instagram oder Snapchat oder die Chatfunktion von Online-Spielen, um den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen herzustellen. „Sie versuchen im Netz anonym oder mit falscher Identität ein Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis zu Kindern und Jugendlichen herzustellen, um sie zu manipulieren und zu sexuellen Handlungen im Netz oder in der analogen Welt zu bewegen“, heißt es auf der Webseite der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Diese Handlungen sind strafbar. Während manche Täter*innen versuchen, reale Treffen zu arrangieren, um dann sexualisierte Gewalt auszuüben, nutzen andere die Anonymität des Internets und fordern beispielsweise das Kind oder den Jugendlichen auf, freizügige Fotos zu verschicken.

Sexting: „Das Versenden von Fotos gehört für Kinder und Jugendliche – aber auch für Erwachsene längst zum digitalen Alltag.“ Schon Kinder experimentieren gerne mit ihrer Selbstdarstellung und versenden Fotos im Vertrauen und der Hoffnung darauf, vom Empfänger das erwünschte positive Feedback zu bekommen. Dieser Vorgang wird in der Fachsprache als „Sexting“ bezeichnet. Zum Problem kann für Kinder auch werden, dass eigene Aufnahmen, die Mädchen und Jungen oft ohne jede Vorahnung ins Netz stellen oder per Smartphone versenden, verfälscht werden. Das eigene Gesicht findet sich dann auf einem nackten bzw. sexuell aktiven Körper wieder und die Täter*innen nutzen diese vermeintliche Aufnahme dann, um das Kind zu erpressen oder zu demütigen. Darüber hinaus kann es geschehen, dass ursprünglich in einer Freundschaft hergestellte intime Aufnahmen nach einem Streit von dem anderen im Internet veröffentlicht oder via Handy an alle möglichen Personen verschickt werden.

Häusliche Gewalt

Die Fachliteratur umschreibt damit Gewaltstraftaten zwischen Erwachsenen in einer gegenwärtigen oder aufgelösten partnerschaftlichen Beziehung oder zwischen Verwandten. Man unterschiedet drei Formen:

  • die physische Gewalt in Form von Schlägen, Tritten, Würgeversuchen, Verbrennungen, Nahrungsentzug

  • die psychische Gewalt in Form von Einschüchterungen, Erniedrigungen, konstanter Kontrolle, Verboten (Erwerbsverbot, Kontaktverbot), Morddrohungen, Einsperren

  • die sexualisierte Gewalt in Form von Zwang zu sexuellen Handlungen oder Vergewaltigungen

Häusliche Gewalt gefährdet das Kindeswohl, weil Mädchen und Jungen, die im Haushalt einer der betroffenen Personen leben, stets in Mitleidenschaft gezogen werden.

Aufwachsen in einer Atmosphäre der Gewalt

Von dieser Mitleidenschaft ist die überwiegende Zahl der Kinder im Kontext häuslicher Gewalt betroffen. Sie vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Die Kinder sehen, wie ein Familienmitglied misshandelt oder vergewaltigt wird; sie spüren den Zorn, die Angst und die eigene Ohnmacht.

Gewalterfahrungen als Mitgeschlagene

Nicht selten versuchen die Kinder, die Mutter oder auch den Vater vor der Gewalttätigkeit des Partners oder der Partnerin zu schützen, und geraten dabei selbst sozusagen zwischen die Fronten.

Als weibliche Genitalbeschneidung werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) alle Verfahren bezeichnet, bei denen die Genitalien von Mädchen und Frauen verletzt, teilweise oder vollständig entfernt werden.

Die WHO unterscheidet vier Typen:

  • Typ I: Teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut (Clitoridektomie)
  • Ty II: Teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen (Exzision)
  • Typ III: Entfernen der kleinen und/oder großen Schamlippen, meistens mit Entfernung der Klitoris. Die äußeren Wundränder werden zusammengeheftet oder -genäht. Es entsteht ein bedeckender, narbiger Hautverschluss, der die Vagina bis auf eine winzige Öffnung verschließt (Infibulation oder „Pharaonische Beschneidung“)
  • Typ IV: Alle anderen schädigenden Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen, wie Einstechen, Ausbrennen oder Dehnen

Auf der Website www.stop-mutilation.org finden Sie einen Leitfaden für pädagogische Fachkräfte mit weiterführenden Informationen.

Weibliche Genitalbeschneidung wird auch in Deutschland praktiziert

Weibliche Genitalbeschneidung wird vorwiegend in afrikanischen Ländern und in Südostasien praktiziert. Schätzungen gehen davon aus, dass zurzeit jährlich 4,1 Millionen Mädchen weltweit an ihren Genitalien beschnitten werden. Durch Migration und Flucht ist weibliche Genitalbeschneidung auch in Europa zum Thema geworden. In Deutschland leben über 35.000 betroffene Frauen und Mädchen, etwa 6.000 Mädchen sind von einer Genitalbeschneidung bedroht. Sehr häufig liegt das Alter einer Genitalbeschneidung zwischen vier und acht Jahren. Allerdings werden auch Beschneidungen im Säuglingsalter und in der späten Pubertät praktiziert. Auch in Deutschland halten viele Familien an der Tradition fest und lassen ihre Töchter beschneiden, meist in den Ferien im Herkunftsland oder im Ausland.

Weitere Informationen finden Sie im Internet:

Weibliche Genitalbeschneidung ist eine Kindeswohlgefährdung und ein Straftatbestand in Deutschland.

§ 226a (StGB) Verstümmelung weiblicher Genitalien

  1. Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
  2. In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.