Begriffliche Abgrenzung: Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung

Was Kindeswohl konkret bedeutet und was im Detail als Kindeswohlgefährdung zu gelten hat, ist gesetzlich an keiner Stelle definiert. Beides sind bis heute sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe geblieben. Es muss folglich in jedem Einzelfall eine eigenständige Einschätzung erfolgen. Wann die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung erreicht ist, bedarf einer komplexen fachlichen Einschätzung, die hohe Anforderungen an die Fachkräfte aus Jugendhilfe und Justiz stellt.

Folgende Anhaltspunkte dienen der Orientierung:

Werden die kindlichen Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt, so können wir in der Regel davon ausgehen, dass das Kindeswohl gesichert ist. Die Voraussetzungen für ein Heranwachsen junger Menschen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten sind dann gegeben. Hinweise darauf geben das Verhalten und Erscheinungsbild des Kindes bzw. beobachtbare Erscheinungsformen einer gesunden Entwicklung.

Erfahrungsgemäß gibt es im Leben eines jeden Kindes Situationen, in denen Grundbedürfnisse nicht zeitnah bzw. optimal befriedigt werden. Ein unvorhergesehenes Ereignis (z. B. ein Stau) kann dazu führen, dass ein Säugling kurzfristig Hunger leiden muss. Ein Umzug in eine andere Stadt kann zur Konsequenz haben, dass ein Kind vorübergehend keine freundschaftlichen Kontakte zu Gleichaltrigen hat.

Vielfach überstehen Kinder einmaligen bzw. kurzfristigen Aufschub von Bedürfnisbefriedigungen ohne weitergehende Probleme, ohne dass es zu einer Kindeswohlgefährdung kommt. Wiederholen sich bestimmte Ereignisse regelmäßig (z. B. Unterversorgung mit Nahrung) oder halten Phasen der minimalistischen Versorgung (z. B. ausreichende Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, aber ausbleibende emotionale Zuwendung) längerfristig an, so werden negative Auswirkungen auf das seelische oder körperliche Wohlbefinden ebenfalls wahrscheinlich.

Die Beeinträchtigungen des Kindeswohls sind per se allerdings noch nicht gleichzusetzen mit einer Kindeswohlgefährdung. Von entscheidender Bedeutung ist die Nachhaltigkeit der Auswirkungen dieser Beeinträchtigungen.

Als Kindeswohlgefährdung gilt bereits seit den 1950-er Jahren „eine gegenwärtige in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasst“ (BGH FamRZ. 1956, S. 350). Gemäß dieser Definition müssen drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sein, damit von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen ist:

  • Die Gefährdung des Kindes muss gegenwärtig gegeben sein.

  • Die gegenwärtige oder zukünftige Schädigung muss erheblich sein.

  • Die Schädigung muss sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lassen, sofern sie noch nicht eingetreten ist.

Voraussetzung ist also nicht nur die Beeinträchtigung des Kindeswohls durch ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen, sondern auch und vor allem die nachhaltig negative Wirkung dieses Verhaltens/Unterlassens, genauer: die körperliche, geistige oder seelische Schädigung des betroffenen Kindes. Erst dann spricht man vom Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung.

Die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen erheblichen Schadenseintritts ist wiederum abhängig vom Handeln der Personensorgeberechtigten, sofern die Bedrohung durch menschliches Handeln oder Unterlassen hervorgerufen oder aufrecht erhalten wird (und nicht beispielsweise durch eine schwere Erkrankung). Von Bedeutung sind:

  • die Fähigkeit der Erziehungsberechtigten, die Gefahr abzuwenden bzw. die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen

  • die Bereitschaft der Erziehungsberechtigten, die Gefahr abzuwenden bzw. die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen