Ein Orientierungsrahmen für mehr Beteiligung im Hilfeplangespräch oder bei der Erstellung des Schutzkonzeptes

Kinder und Jugendliche beteiligen heißt, das Gespräch mit ihnen führen, sie fragen und ihre Antworten hören bei der Einschätzung ihrer eigenen Lebenslage und in vielen Fragen der Hilfeplanung, die sie betreffen. Wer diesen Auftrag im Jugendamt, in der Wohngruppe oder bei Projekten mit Jugendlichen längst umsetzt, weiß, wie groß die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen in eigener Sache sind. Sie sind in der Lage, ihre Vorstellungen zu äußern – auch wenn das bedeutet, dass sie andere Vorschläge ablehnen. Sie bringen auf den Punkt, warum ihnen eine andere Idee besser gefällt und sie verstehen und akzeptieren, wenn das, was sie sich für den Hilfeverlauf wünschen, nicht ohne Umwege zu haben ist.

Wer es ernst meint mit dem Recht auf Beteiligung, braucht Zeit, ein offenes Ohr und Respekt vor den Lebensgeschichten dieser Kinder und Jugendlichen. Augenhöhe bedeutet auch, sich einzulassen auf ein Aushandeln, welche Argumente entscheidend sein sollen für den weiteren Weg. Es mag sein, dass man dabei bessere Argumente hört oder andere Sichtweisen, die abweichen von dem, was man selbst für richtiger hält. Die vermeintlich schwächere Lösung vorziehen, auch darauf haben Kinder und Jugendliche ein Recht. Gut möglich, dass außerdem der Rahmen der Gefährdungseinschätzung und des  Hilfeplangesprächs überdacht werden muss, wenn Beteiligung in einem anderen Setting besser gelingt.

Das alles zielt in den Kern des fachlichen Selbstverständnisses. Beteiligung auch in schwierigen Hilfeprozessen fordert auf zu kritischer Selbstreflexion, damit der Schutzauftrag nicht automatisch über dem Recht, gehört zu werden, steht. Das eigene Rollenprofil zwischen Schützen und Begleiten muss immer wieder überdacht werden. Außerdem gilt es fachliche und organisatorische Routinen zu hinterfragen. Das Recht auf Beteiligung braucht Mut, Experimentierfreude und Lust auf Innovation.

 

1. Routinen hinterfragen

Ohne Routinen und abgestimmte Verfahren geht es in der Jugendhilfe nicht. Es spart Zeit und gibt Sicherheit, wenn klar abgestimmte Schritte systematisch abgearbeitet werden können. Doch das Gefühl in einem engen Verfahrenskorsett zu stehen, lähmt und schränkt den Spielraum ein, auf den es für Beteiligung ankommt. Zeitliche Freiräume sind grundlegend. Immerhin werden die Hilfen in der Regel für ein halbes Jahr im Voraus geplant und es wird ggf. über den weiteren Lebensverlauf eines Kindes/Jugendlichen entschieden. Der Anspruch muss sein, einen Jugendlichen einige Male, wieder zu treffen, bis geklärt ist, wo es hingehen soll. Wenn nötig, muss der zeitlichen Rahmen offener gehalten werden, je nachdem, wie viel Spielraum die Taktung im Amt zulässt und wie akut eine Gefährdung ist. Zuhören braucht Zeit. Wenn den Jugendlichen und Kindern kein Raum für ihre eigenen Ideen, Widerstände und Haltungen angeboten wird, passiert leicht dies: Der Hilfeprozess gerät ins Stocken oder kommt nicht zustande.

Beteiligung ist in der Gefährdungseinschätzung und Hilfeplanung die spannende und zugleich problematische Schnittstelle. Die Logik im Helfersystem bestimmt üblicherweise, wer wann mit welcher Hilfe auf den Plan tritt. Wenn ein Zielentwicklungskonzept erarbeitet wird, wird ein versierter, grundsätzlich strukturierter Lösungsweg vorgedacht. In den Ablaufplanungen kommt dabei der Punkt „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ regelmäßig nicht vor. Weil ein solcher Prozess die strukturierte Routine stören würde?  Obwohl das Recht, gehört und beteiligt zu werden, gesetzlich eindeutig geregelt ist, bleibt die Mitwirkung dann außen vor oder wird nur schematisch abgehakt. Umfragen belegen, dass Eltern und Kinder in der Rückschau auf den Hilfeprozess die Botschaft so lesen: „Wir können zur Hilfeplanung nicht beitragen. Das ist Aufgabe der Fachleute“.  Sie überlassen in der Folge die Verantwortung ganz den Profis, verlieren die eigenen Möglichkeiten aus dem Blick und fühlen sich für die weitere Entwicklung nicht zuständig. 

 

2. Das Doppelmandat austarieren

Beteiligung erfordert Mut. Wenn man fürchten muss, dass die Situation in der Familie gründlich aus dem Ruder läuft, sinkt die Bereitschaft auf Beteiligung zu setzen. Häufig müssen Hilfeplan und Schutzplanung parallel erstellt werden. Keine Frage: Der Schutzplan im Kontext von § 8a SGB VIII hat hohe Dringlichkeit, wenn Unternährung droht, der Schulbesuch nicht gewährleistet ist oder der Jugendliche immer wieder ausreißt. Da geht es um Kindeswohlgefährdung und es muss schnell gehandelt werden. Dennoch gilt gesetzlich auch in diesen Fällen die Beteiligungsverpflichtung. Es ist daher ein Ausdruck fehlender Praxis, dass Beteiligung aus den Vereinbarungen zum § 8a oft heraus gehalten oder nur als Anhang – nach Gefährdungseinschätzung und Schutzplanerstellung – vorgesehen ist. Hier stimmt die Reihenfolge nicht! Beteiligung ist nicht schönes Beiwerk für die nicht ganz so schwierigen Fälle, unausgesprochen so legitimiert: „Wenn es ernst wird, wissen wir besser Bescheid.“ 

Das Doppelmandat zwischen Schutz und Beteiligung ist die große fachliche Herausforderung. Wann ist man der Ansicht, dass die Eltern, Kinder oder Jugendlichen nicht mehr für sich entscheiden können? Wie umgehen mit dem gesellschaftlichen Druck im Hintergrund: Die Fachkraft im Jugendamt muss Experte sein für die Situation der Familie, muss auch nach kurzer Zeit schon wissen, welche Gefährdung sich da unter Umständen entwickelt? Wie argumentieren gegen den ordnungspolitischen Impuls, dass die Situation in der Familie von außen ohne jegliche Beteiligung „repariert“ werden kann? In diesem schwierigen Kontext muss sich das eigene fachliche Wissen behaupten. Hilfeplanung ist soziale Arbeit im eigentlichen Sinn. Sie funktioniert vor allem über Beziehung und Vertrauensaufbau. Beteiligung ist für beides die Grundlage.

 

3. Beteiligungsrechte offen ansprechen

Es gilt, in die Sprache der Jugendlichen zu übersetzen, dass sie ein Recht auf eine eigene Meinungen und Vorstellungen haben. Es gehört dazu ihnen zu sagen, dass ihre Meinung zählt, auch wenn’s schwierig wird und sie z.B. mit einer Person oder einer Entscheidung nicht zurechtkommen. Es gehört auch dazu, verständlich zu machen, dass am Ende nicht alle Wünsche erfüllt werden, sondern der Weg gemeinsam abgestimmt wird. Transparente Aufklärung ist grundlegend für Beteiligung. In der Praxis kommt es aber meist nicht soweit: Schon die Aufklärung über das Recht auf Beteiligung ist die Ausnahme bei der Hilfeplanung und der Erstellung von Schutzkonzepten. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im eigentlichen Verfahren unterbleibt dann meist ganz. Manche Fachleute fragen sich deshalb ernsthaft, ob man überhaupt über einen Rechtsanspruch informieren soll, wenn er dann so selten umgesetzt wird.
Es gibt außerdem die professionelle Sorge: Was wird ausgelöst beim Kind, wenn man das, was verhandelt wird transparent macht und die Gründe für das Schutzkonzept offen anspricht? Das Gegenteil ist lt. Forschung der Fall: Belastet werden Kinder eher, wenn die Zusammenhänge und Hintergründe des Schutzkonzeptes diffus bleiben und sie nicht beteiligt, sondern Objekt der Fürsorge werden. Solche Gespräche mit der notwendigen Klarheit und Empathie zu führen, muss gelernt werden. Denn immer wieder wird im Einzelfall auch das eigene anspruchsvolle Doppelmandat erläutert werden müssen: Wie stehen die beiden Kinderrechte auf Schutz und Beteiligung nebeneinander? Transparenz über das Recht auf Beteiligung bei allem, was besprochen und entschieden wird, kann im Krisenmoment dennoch bedeuteten, dass der Schutzauftrag Vorrang hat.

 

4. Die Perspektive wechseln

Fachkräfte haben in der Regel bald im Verfahren eine Idee, wie sie einem Jugendlichen helfen können. Mit ihrem Amt und Selbstverständnis fällt es ihnen leichter dieser Idee zur Geltung zu verhelfen. Beteiligung erfordert das Gegenteil: den Perspektivwechsel, in die Schuhe des anderen steigen, sich mit Einfühlungsvermögen auf andere Vorstellungen einlassen – ganz gleich, was die lange berufliche Erfahrung und die Kenntnis der (beschränkten) Hilfemöglichkeiten sagen. Das fordert die gesamte fachliche Haltung manchmal gegen das fachliche Wissen. Wie offen bin ich wirklich für den Gegenentwurf einer Jugendlichen, die nicht von zu Hause weg will, weil sie ihre Familie nicht aufgeben möchte? Oder gegenüber der Ansicht eines Kindes, das überzeugt ist: „Wir kommen in der Familie zurecht, wir haben unseren Alltag organisiert?“
Solange die Kinder noch jung sind, gelingt es leichter, Kontakt aufzunehmen und in Richtung Beteiligung zu arbeiten. Schwieriger wird es, wenn sie älter werden und Zähne zeigen. Dann gelten  Jugendliche schnell als „Systemsprenger“. Aber auch sie haben nach § 8 SGB VIII das Recht, gehört und mit ihre Einwänden und Vorschlägen ernst genommen zu werden. Es geht auch um Nähe und Distanz, sich einlassen und die Grenzen akzeptieren, z.B. von Kindern, die ihre eigenen Erfahrungen mit Erwachsenen dazu bringen, nicht offen zu sein, kein Hilfeangebot zu erkennen in dem, was beim Jugendamt verhandelt wird. Das Recht gehört zu werden, ist nur dann ein echtes Recht, wenn die (mehr wissenden) Erwachsenen im Raum Bezug auf das Gehörte nehmen und nicht die Jugendlichen da abholen, wo sie sind – um sie dann dorthin zu führen, wo man sie haben will.

 

Weiterführendes Interview

Partizipation braucht Zeit, Beziehung und Kontakt. Lesen Sie dazu Hinweise von Birgit Köppe-Gaisendrees, Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V., im Interview mit dem Kompetenzentrum Kinderschutz.

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